Katajun Amirpur ist Assistenzprofessorin für moderne Islamische Welt an der Universität Zürich
Es ist noch gar nicht so lange her, ziemlich genau ein Jahr, dass in der Schweiz über Minarette abgestimmt wurde. Doch ich will eingangs betonen, dass es mir hier weniger um das Minarettverbot geht als um das, wofür das Verbot steht. Und um das, was aus dem Verbot folgen könnte: Das Minarettverbot verletzt nicht nur das Recht auf freie Religionsausübung; es diskriminiert nicht nur eine bestimmte Glaubensgemeinschaft. Schwerwiegender ist, dass es Grundrechte zur Disposition stellt. Es stellt Grundrechte, noch dazu Grundrechte einer Minderheit, zur Disposition – die damit keine Grundrechte mehr sind. Das ist/war ein einzigartiger Vorgang, der ganz Europa betrifft und weit mehr als nur Minarette. Denn mit den gleichen Argumenten, mit denen man für das Minarettverbot geworben hat, kann man theoretisch alle anderen Formen islamischer Präsenz im öffentlichen Raum verbieten: Die Burka wie auch das Kopftuch, das öffentliche Gebet, wir haben gerade Bilder gesehen; Moscheen.
Hinzu kommt: Nicht nur Muslime sind hier in Gefahr. Oder laufen Gefahr, dass ihnen ihre Grundrechte aberkannt werden. Denn dass Grundrechte aberkannt werden, sollte auch diejenigen empören und auf den Plan rufen, die sich dem europäischen Projekt verpflichtet fühlen. Wir erinnern uns: Das Projekt Europa, das eben nicht nur die Idee von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft umfasst, ist eines, dem ein bestimmter Wertekanon zugrunde liegt. Aus bestimmten historischen Gründen war man dazu gekommen, sich zu einem Projekt zusammenzuschließen, dem ein solcher Wertekanon zugrunde liegt. Das Projekt Europa umfasst also einen Wertekanon, zu dem man sich unabhängig von seiner Kultur, Rasse, Nationalität, Religion bekennen kann – oder eben nicht. Das ist im übrigen auch der Grund, warum vielen Zugezogenen – auch, politisch korrekt, Menschen mit Migrationshintergrund genannt – so viel liegt an dem Projekt Europa: Denn Europäer kann man werden, Deutscher hingegen nicht. Das haben viele von uns gerade in den letzten Monaten schmerzlich erfahren.
Das Projekt Europa also: Es ist kein Zufall, dass die Rechtspopulisten und ihre ehemals liberalen, nun neokonservativ gewendeten Wegbereiter in den Medien allesamt auch Skeptiker bzw. Gegner des europäischen Einigungsprozesses sind: Sie wollen Abschottung, statt Öffnung; den engen Nationalstaat betonen, statt der weiten Vielfalt eines vereinigten Europas einen Raum geben. Ihre neoliberalen Wirtschaftsvorstellungen beispielsweise richten sich auch gegen das soziale Vermächtnis der europäischen Gründerväter und –mütter. Insofern sollten nicht nur die, die sich um die Muslime sorgen, sorgenvoll sein. Besorgt sollten auch die sein, denen etwas am Projekt Europa liegt.
2. Es kann natürlich andererseits nicht darum gehen, Debatten um die muslimische Präsenz in Europa, um die Sichtbarmachung und Sichtbarwerdung ihrer Präsenz, so zu stigmatisieren, dass sie in der Öffentlichkeit nicht mehr geführt werden. Damit erreicht man nur, dass die Probleme, die nicht thematisiert geschweige denn gelöst werden, von anderen aufgenommen werden – von rechtspopulistischen Parteien eben. Natürlich müssen die Probleme, die zwangsläufig entstehen, wenn ein Kontinent so viel Einwanderung erlebt, wie Europa in den letzten Jahrzehnten, thematisiert werden. Sie müssen jedoch als das thematisiert werden, was sie sind: nämlich ganz normale Prozesse, in denen es um die Austariierung von Interessen geht, um Gewöhnungsprozesse und um Konflikte, die zwangsläufig sind, aber eben nicht unlösbar. Natürlich macht es Probleme, Minderheiten zu integrieren, die aus anderen kulturellen, religiösen, nationalen Kontexten kommen. Das war schon mit den Iren in den USA nicht einfach; und mit den Polen im Rheinland seinerzeit auch nicht. Es haben sich – wenn ich konkret Deutschland in den Blick nehme – jahrzehntelange Versäumnisse angehäuft; auf beiden Seiten. Weil die realen oder auch nur die vorgestellten Konflikte nicht thematisiert, weil keine Anforderungen an die Einwanderer formuliert, keine Integrationsbereitschaft bei der Mehrheitsgesellschaft geweckt wurden, treffen uns die Probleme heute mit um so größerer Wucht. Aber warum sollte es nicht gelingen, sie zu lösen? Hat mit den Iran und den Polen ja auch geklappt.
3. Wichtig wäre aber dazu, denjenigen, die integriert werden sollen, nicht Dinge zu unterstellen oder um die Ohren zu hauen, die bei ihnen eine solche Abwehrhaltung entstehen lassen, dass sie nur noch trotzig und bockig reagieren können. Man kann sich doch vorstellen, was für eine Reaktion es auslöst, wenn Horst Seehofer, Vorsitzende der CSU sagt, Türken und Araber seien nicht integrierbar oder wenn die deutsche Bundeskanzlerin erklärt, Multi-Kulti sei gescheitert oder wenn der Autor eines Buches, das sich anderthalb Millionen mal verkauft, das muslimische Gen entdeckt, aufgrund dessen Araber und Türken dümmer seien als andere. Führt man so eine Debatte über Integration? Eine solche Debatte hat zwei Folgen: Zum einen wandern immer mehr Türken aus: Auch sie haben ihren Stolz. 39.000 waren im letzten Jahr, die Deutschland in Richtung Türkei verlassen haben; gegenüber 29.000, die eingewandert sind. Und natürlich gehen die, die bestens ausgebildet sind. Volksökonomisch gesehen ist das mehr als dumm: erst bildet man die Leute hervorragend aus, dann bringt man sie dazu zu gehen. Verschleuderung von Humankapital nennt man das.
Die zweite Folge ist, dass man die Muslime in Deutschland durch diese Art des Diskurses erst zu dem Kollektiv macht, das sie vorher gar nicht waren. In den letzten Jahren merke ich auch an mir selber, wie man durch die Erfahrung, als Angehöriger eines Kollektivs abgelehnt zu werden, sich überhaupt erst diesem Kollektiv zugehörig fühlt. So wiederholt sich zurzeit unter den Muslimen in Europa, was der Struktur nach eine Erfahrung aller Minderheiten ist. Im Ergebnis ist dies die Muslimisierung der Muslime. Und das ist eigentlich nicht das, was Europa bewirken sollte.
Statt permanent über die Integrationsfähigkeit der Muslime zu schwadronieren, sollte man Rechtsgehorsam von ihnen fordern – und sie alsdann in Ruhe lassen. Rechtsgehorsam als erste und einzige Bürgerpflicht. Ob sie die neuerdings viel beschworenen christlich-jüdischen Werte und Traditionen verinnerlicht haben, kann man eh nicht überprüfen, auch bei den Natur-Deutschen nicht. Es wäre also in der Tat hilfreich, dass Grundgesetz nicht auch noch christlich-jüdisch zu taufen, wie der Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde bemerkt hat. Denn damit schwächt man gerade den Rechtsgehorsam.
Zudem ist das Kalkül zu durchschaubar. Christlich-jüdisch wird hier als Kampfbegriff verwendet, der vor allem einem dient, der Exklusion der Muslime. Viele jüdische Intellektuelle haben sich deshalb in den letzten Wochen gegen diese Formulierung gewandt, unter ihnen Almuth Sh. Bruckstein Coruh, Micha Brumlik und Rafael Seligmann. Der schreibt: „1.700 Jahre kam allen Heines, Liebermanns, Einsteins, Tucholskys zum Trotz so gut wie niemand auf die Idee, die jüdische Tradition Deutschlands hervorzuheben“. Von der Moslem-Angst gepeinigt, erinnere sich der „hilflose Michel“ nun seiner jüdischen Überlieferung und führe sie gegen den Islam ins Feld.
In Politik und den Feuilletons ist dieser Tage und schon länger immer wieder davon die Rede, dass man die Ängste der Bevölkerung vor dem Islam ernst nehmen sollte. Das ist einerseits richtig, vernebelt aber dass diese Ängste oft sehr gezielt geschürt werden. Wir erinnern uns im speziellen Falle des Minarettvotums an die aufwendige Kampagne der Verbotsbefürworter. Hier wurden künstlich Ängste geschürt und das ist andernorts auch der Fall: Oder wie ist sonst erklärbar, warum die Angst vor dem Islam gerade dort besonders ausgeprägt ist, wo die wenigsten Muslime leben, also in den ländlichen, aber auch in manchen wohlhabenden, großbürgerlichen Gegenden. Und wenn wir schon bei Ängsten sind: Es war sehr bezeichnend, dass nach dem Minarettverbot kaum ein europäischer Staatsführer die Ängste jener thematisierte, die gerade in einem europäischen Land zu Bürgern zweiter Klasse gestempelt worden waren. Auf welchen Integrationsgipfeln möchte man sie künftig davon überzeugen, sich als Teil der europäischen Gesellschaften zu begreifen?
Wer die Sorgen vor Überfremdung ernst nimmt, sollte nicht den Rechtspopulisten vorauseilenden Gehorsam üben und das Fremde per Gesetz unsichtbar machen. Sondern Ängste sollte man abzubauen versuchen, indem man Perspektiven bietet zur Problemlösung, im Konkreten: mit Sprachförderung schon in den Kindergärten, Frauenhäusern, Investitionen in die Bildung, Maßnahmen gegen Gettoisierungstendenzen in den Städten oder der Ausbildung von muslimischen Religionslehrern, um nur wenige Beispiele zu nennen.
Dieser Text wurde vom Autor auf der Konferenz “Nach dem Minarettverbot: die offene Gesellschaft und der Islam” vorgelesen. Veranstalter des Symposiums, das am 17. November 2010 an der Züricher Universität stattfand, waren der Universitäre Forschungsschwerpunkt Asien und Europa und die Stiftung Reset – Dialogues on Civilizations.